420 Millionen Jahre
oder 102 Meter vor heute
Zeitalter: Paläozoikum / Silur
Zu Beginn des Silur entwickeln die Wirbeltiere bewegliche Kiefer, die es ihnen erlauben, Nahrung zu ergreifen, festzuhalten und zu zerkleinern. So eröffnen sich den Kiefertieren völlig neue Ernährungsmöglichkeiten. Aus Knochenschuppen bilden sich Zähne, die auf den Kieferrändern, in der Mundhöhle oder im Schlund sitzen können. Diese Entwicklung ist so erfolgreich, dass es heute nur noch zwei kieferlose Wirbeltiergruppen gibt (Neunaugen und Schleimaale).
Dargestellt ist ein Dunkleosteus.
Nach dem Ende der Eiszeit zu Beginn des Silur herrscht ein warm-gemäßigtes Klima mit einem globalen Durchschnittswert von ungefähr 17 °C. Die Sauerstoffkonzentration steigt erstmals auf bis zu 14 % an, während die Kohlendioxidkonzentration unter 0,4 % sinkt. Aus den Landmassen Laurentia und Baltica bildet sich der Kontinent Euramerika (Laurussia).
Diese Infos in einfacher Sprache auf evokids.de.
Die Evolution des Kiefers war ein komplexer Vorgang, der bis heute nur zum Teil verstanden ist. Der Kiefer entstand aus dem ersten Visceral- oder Pharyngealbogen, der sich bei den Fischen zum ersten Kiemenbogen entwickelt. Für seine Entstehung war die Inaktivierung eines wichtigen Entwicklungsgens notwendig. Dies ist ein sehr ungewöhnlicher Entwicklungsgang. Er ist Resultat eines komplexen, zeitlich und örtlich exakt abgestimmten Geschehens, in dem Wachstumsprozesse des Gehirns und des Neuralrohres, des Herzens und von ihm ausgehender Blutgefäße eingebunden sind. Die schnelle Vermehrung von Zellen, die aus dem Bereich des embryonalen Gehirns (Neuralleistenzellen) einwandern, führt zur raschen Volumenzunahme der Bögen sowie zur Anlage von Vorknorpelstrukturen (Blasteme), Muskeln, Nerven und Blutgefäßen in ihnen. Die Neuralleistenzellen sind bereits vor ihrem Auswandern genetisch determiniert.
Die „Erfindung“ des Kiefers
Die Entstehung des Kiefers ermöglichte im Laufe der Wirbeltierevolution den Übergang von saugenden Ernährungsformen zu räuberischen Lebensweisen.
Nach einer älteren Systematik teilt man die Wirbeltiere in zwei Gruppen, die Kieferlosen (Agnatha), zu denen heute nur noch das Neunauge und die Schleimaale zu rechnen sind, und die Kiefermünder (Gnathostomata), zu denen alle anderen Wirbeltierformen gehören. Hauptkennzeichen der Gnathostomata ist ein Kieferskelett aus umgewandeltem erstem Visceralbogen mit gelenkig verbundenem Ober- und Unterkiefer.
Die zu den kieferlosen Wirbeltieren zählenden Neunaugen stellen ein evolutionäres Relikt dar: Ihre Raspelzunge und ihr Saugmund ermöglichen nur eine vergleichsweise primitive Ernährungsform. Eine räuberische Lebensform ist für diese Organismen nicht möglich. Diese erlaubte erst die evolutionäre „Erfindung“ des Kiefers.
Neunaugen: Körperbau der verschiedenen Formen (oben Meerneunauge, Mitte Flussneunauge, unten Bachneunaugen) und Detail des Saugmunds mit Raspelzunge. (Quelle: wikipedia; linkes Bild: Alexander Francis Lydon (1836–1917) – British fresh water fishes; rechtes Bild: Drow male)
Dass diese Innovation eine sehr „erfolgreiche“ Bildung war, kann man unter anderem daran erkennen, dass fast alle gegenwärtig existierenden Wirbeltiere, wie Fische, Reptilien, Amphibien, Vögel und Säuger einen Kiefer aufweisen. Die Konstruktionsform hat sich offensichtlich gegenüber den kieferlosen Bauplänen durchgesetzt.
Genetische Ursachen
Die genetischen Ursachen der Kieferbildung lagen bislang im Dunkeln. Bekannt war nur, dass in den Embryonen der Kiefermünder der Kieferknorpel aus dem so genannten Mandibularbogen hervorgeht, dem ersten der Kiemen- bzw. Visceralbögen. Hier wird keines der Hox-Gene aktiviert.
Eine künstliche Aktivierung dieser Gene im Mandibularbogen führt zu einer Fehlbildung des Kieferapparates. Aus diesem Grund lag es nahe, dass die Kieferentwicklung von der Regulation der Hox-Gene abhängig ist, wie kürzlich anhand von Versuchen mit Neunaugen gezeigt werden konnte.
Hox-Gene
Die Hox-Gene stellen eine Unterfamilie der Homöobox-Gene dar, die in allen bisher untersuchten vielzelligen Tieren vorkommen. Hox-Gene wirken als Regionalisierungsgene, welche entlang der Körperlängsachse die regionale (positionelle) Identität der Zellen festlegen (Positionsinformation). Die Hox-Gene bei Gliederfüßern (Arthropoden) und Wirbeltieren liegen auf dem Chromosom als Cluster vor. Während der Evolution der Gliederfüßer und Wirbeltiere korrelierte die Veränderung der Expression von Hox-Genen mit der Veränderung der Körperbaupläne.
Zoologen der University of Reading (UK) konnte nachweisen, dass in der Embryonalentwicklung des Neunauges in der Mundregion das HoxL6-Gen exprimiert, d.h. abgelesen und in ein Protein übersetzt wird.
Bei kiefertragenden Wirbeltieren ist dies ausnahmslos nicht der Fall, was den Schluss zulässt, dass die Evolution des Kiefers mit einer Unterdrückung des HoxL6-Gens einherging.
Um sicher zu gehen, dass die Kieferlosigkeit des Neunauges ein evolutionär ursprünglicher Zustand, d.h. keine sekundäre Rückbildung ist, wie bis zum Beginn des 20. Jhd. angenommen wurde, führte man ähnliche Versuche mit Lanzettfischchen durch. Diese zeigen ein ähnliches Expressionsmuster im Kopfbereich, was deshalb ein guter Hinweis für die Richtigkeit der Hypothese der Gen-Unterdrückung ist, da Lanzettfischchen nach einem noch „primitiveren“, d.h. evolutionär ursprünglicheren Bauplan gestaltet sind als Neunaugen.
Allerdings sind mit diesen Ergebnissen noch nicht die gesamten genetischen Ursachen der Kieferbildung aufgedeckt worden. Vielmehr ist es so, dass die HoxL6-Unterdrückung nur eine notwendige Vorbedingung für die weitere Evolution der Kieferentwicklung war. Wie viele Gene und Bildungsschritte zu einer kompletten Kieferentwicklung führten, wird Gegenstand zukünftiger Forschungen sein. [KHB]