Als Molekulare Uhr bezeichnet man eine Methode, anhand der Anzahl von Mutationen im Genom zweier eng miteinander verwandter Arten auf den Zeitpunkt zurückzuschließen, zu dem sich die beiden Arten im Stammbaum voneinander abgezweigt haben.
Grundbedingung für dieses Konzept ist die Annahme, dass das Leben auf der Erde monophyletisch ist, dass also alles Leben auf der Erde von demselben Ur-Lebewesen abstammt. Dies bedeutet, für zwei beliebige Lebewesen gibt es immer einen gemeinsamen Vorfahren, von dem ausgehend sich diese Lebewesen entwickelt haben.
Stammbaum des Lebens: Ausgehend von einem allen Lebewesen gemeinsamen Vorfahr haben sich alle Lebewesen durch Aufspaltung in jeweils zwei Äste entwickelt, die sich wiederum in zwei Äste aufgespalten haben und so weiter. (Quelle: opentreeoflife.org).
Diese Annahme wird gestützt durch die Tatsache, dass alle Lebewesen die gleichen Bausteine des Lebens benutzen. Diese umfassen die in allen Lebewesen gleichen fünf Nucleotide Adenin, Cytosin, Guanin, Uracil und Thymin, die die Informationseinheiten der Nucleinsäuren bilden, die ebenfalls gleichen ca. 20 L‑Aminosäuren als Bausteine für Eiweiße (Proteine) und den für alle Lebewesen identischen genetischen Code, der einer Folge aus jeweils drei Nucleotiden eine bestimmte Aminosäure zuordnet.
Das Wissen um den Zeitpunkt, zu dem sich Arten von einander getrennt haben, ist aus mehreren Gründen von Bedeutung. Zum einen gibt der Zeitpunkt Hinweise darauf, ob heutzutage als direkt verwandt angesehene Arten dies auch tatsächlich sind. Zum zweiten lassen sich die Aufspaltungen evtl. mit Umweltereignissen verknüpfen, die sie möglicherweise ausgelöst oder befördert haben.
Mutationen und Mutationsrate
Die vollständige Information jeder Zelle über ihren Aufbau und ihre Funktionsmöglichkeiten ist in ihrem genetischen Material, dem sog. Genom, in Form der Ribonucleinsäure (RNA, für ribonucleic acid) bzw. Desoxyribonucleinsäure (DNA) gespeichert. In diesen Nucleinsäuren sind die oben erwähnten Nucleotide kettenförmig organisiert, und ihre Reihenfolge innerhalb dieser Kette codiert die Information. Bei der Zellvermehrung muss eine identische Kopie einer Zelle erstellt werden, ehe sich die Zelle teilen kann. Obwohl der Kopiervorgang mit hoher Genauigkeit erfolgt, ist es prinzipiell unmöglich, dass er immer absolut fehlerfrei gelingt. Diese Kopierfehler nennt man Mutationen. Wird die genetische Information in die Synthese von Eiweißen (Proteinen) umgesetzt, führt eine Mutation zu einer Veränderung der produzierten Eiweißmoleküle, was wiederum Veränderungen der Zelleigenschaften zur Folge hat. Dies wiederum bildet die Grundvoraussetzung für die Evolution.
Allerdings spielt es eine Rolle, wo im Genom die Mutationen auftreten. Die Information im Genom teilt sich nämlich auf in Strukturgene und Regulatorgene. Strukturgene sind Gene, die Eiweiße wie Enzyme oder Speicherstoffe codieren. Veränderungen aufgrund von Mutationen in diesen Genen bezeichnet man als molekulare Evolution. Regulatorgene bestimmen, wie und in welchem Kontext Strukturgene abgelesen, d.h. Eiweiße produziert werden. Auf Mutationen in diesen Genen zurückgehende Veränderung wird als morphologische Evolution bezeichnet. Es gibt keine Beziehung zwischen der Geschwindigkeit der molekularen Evolution und der morphologischen Evolution. Während die Mutation in Strukturgenen mit relativ konstanten Mutationsraten erfolgt, erscheint die Mutation in genregulatorischen Sequenzen unregelmäßig aufzutreten.
Bei regelmäßig auftretenden Mutationen lassen sich mit dieser Methode anhand von Veränderungen in Markerproteinen z.B. die Entstehung des modernen Menschen, d.h. seine Abspaltung von seinen menschlichen Vorfahren, die Abspaltung des Menschen von den Menschenaffen oder sogar der Zeitpunkt der sog. Kambrischen Radiation ermitteln, in deren Zuge sich in kürzester Zeit die grundlegenden Körperbaupläne fast aller heute noch existierenden Tierstämme entwickelt haben.
Voraussetzung dafür ist, wie gesagt, eine halbwegs konstante Mutationsrate des Erbgutes. Zu deren Bestimmung, also zur „Eichung“ der Uhr, sind andere Datierungsmethoden notwendig, wie beispielweise die radiometrische oder stratigrafische Datierung der frühesten Fossilien der zu vergleichenden Arten oder Stämme.
Wie die bisherigen Untersuchungen gezeigt haben, ist die Mutationsrate leider nicht immer konstant. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass Mutationen im Genom nicht überall gleich häufig und wahrscheinlich sind. Eine “konstante Mutationsrate” gilt also immer nur für eine bestimmte Region des Genoms. Hat man diese allerdings einmal ermittelt, lässt sich der Zeitpunkt, an dem sich zwei Arten von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren getrennt haben, relativ genau bestimmen.
Die Hauptprobleme bei der Zeitberechnung anhand der Molekularen Uhr sind also, ob und wie konstant die Mutationsrate festgestellter Mutationen ist und ob sich diese Mutationsrate im Laufe der Jahrmillionen signifikant verändert hat.
Einsatzmöglichkeiten der Molekularen Uhr
Die Methode der molekularen Uhr ist besonders gut für Bakterien oder Viren einsetzbar, deren Genom aus einem linearen DNA-Strang besteht und deren Mutationsrate überall im Genom ungefähr gleich groß ist. Aber auch, wenn das nicht der Fall ist, lassen sich Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Bakterien- oder Virenstämme mit Hilfe der Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten (Bayes-Theorem) beschreiben.
Bei höher entwickelten Organismen mit einem in Chromosomen aufgeteilten Genom ist die Anwendung der Molekularen Uhr komplizierter. [KHB]